Gavdos 1975 - ein Reisebericht
Von Klaus Bötig | 19.August 2014
1975 war ich erstmals auf Gavdos, Europas südlichster Insel zwischen Kreta und Afrika. Damals habe ich darüber für ein Reisemagazin eine Reportage über diese Reise geschrieben, die 1976 veröffentlicht wurde. Hier ist sie noch einmal:
Etwa hundert Menschen leben auf diesem Eiland, das im Mittelalter 8000 Bewohner ernährte und das schon in der Bibel erwähnt wird: Der Apostel Paulus erlitt hier gemäß Apostelgeschichte Schiffbruch.
Ein kleines Kaiki bringt Menschen und Fracht in fünf Stunden von Paleochora nach Gavdos. An Bord ist auch die alte Pippina, die sich drei Wochen lang bei der Kastanienernte in den Weißen Bergen ein wenig Bargeld verdient hat. Jetzt fährt sie zurück auf ihre Heimatinsel, dem vielleicht vergessensten Winkel Griechenlands. Es gibt dort keinen elektrischen Strom, keinen Asphalt, kein Auto, kein Moped, ja nicht einmal ein Fahrrad. Esel sind die einzigen Transportmittel, und Esel stehen auch bereit, als das Kaiki an dem kleinen Anleger von Karave festmacht.
Hier unten steht nur ein Haus, darin leben Pippinas Tochter und Schwiegersohn, halten ein paar Hühner und betreiben ein Kafenio, das zugleich Gemischtwarenhandlung ist. Pippinas Sohn, der Pappas der Insel, ist mit ein paar Eseln herabgekommen und schnürt nun Taschen und Säcke auf den Rücken der Tiere. Eines bleibt frei, darauf muss der Fremde Platz nehmen, den Pippina schon auf dem Boot in ihr Haus eingeladen hat.
Zunächst geht es eine breite Erdstraße entlang, die bald in einem duftenden Kiefernwäldchen verschwindet. Sie ist seit drei Jahren in Bau und soll irgendwann einmal alle vier Dörfer der Insel untereinander verbinden. Unsere kleine Karawane schwenkt nach Süden ab, bewegt sich zwischen Disteln, Heidekraut und Steinen auf einer Andeutung von Weg bergan. Überall sind die Spuren der Vergangenheit in den zahllosen verwilderten Terrassen sichtbar, auf denen einst Getreide und Gemüse gedieh.
Nach zwei Stunden Ritt ist Vatsiana erreicht. Zuerst mag man gar nicht glauben, dass das hier ein Dorf sein soll: noch aus wenigen hundert Metern Entfernung sieht das fremde Auge zunächst nur Steine und rote Erde. Doch dann verwandeln sie sich plötzlich in Häuser und Mauern - tatsächlich eine Siedlung, verloren auf der Höhe eines Hügels, ohne Wege, verwachsen mit dem Untergrund, auf dem sie steht. Einzig das Haus des Pappas und die Kirche sind weiß gekalkt.
Des Priesters Frau hält schon das Essen bereit. Die Kinder kehren gerade aus der Schule zurück, wo ein junger Lehrer, für ein Jahr hierher versetzt, dreizehn Schüler sechs verschiedener Jahrgänge in einem einzigen Klassenraum unterrichtet. Sie haben zum Teil einen täglichen Schulweg von drei Stunden. Ein wahrhaft gavdiotisches Mahl steht auf dem Tisch. Linsensuppe, rohe Zwiebeln und in Wasser geweichter Zwieback. Fleisch wird auf Gavdos nur an hohen Festtagen aufgetischt, denn Ziegen und Schafe sind rar. So manche Familie erfährt die Bedeutung des Wortes “Hunger” noch am eigenen Leib, vor allem dann, wenn der Regen ausbleibt und die Eernte kümmerlich ausfällt. Viele haben deswegen aufgegeben und sind nach Kreta gezogen; unter der venezianisch-osmanischen Burg von Paleochora leben sie in Sichtweite ihrer Heimat weiter.
Der Pappas hat eine Karte der Insel mit ihren vier Dörfern und den verstreut liegenden Einzelhäusern gezeichnet. Gavdos misst etwa neun Kilometer in der Länge und fünf in der Breite. Vatsiana ist der südöstlichste Ort; hier amtiert der gewählte Bürgermeister. Ein Eselspfad führt an der Steilküste entlang gen Nordwesten ins heute fast verlassene Xenaki, wo der Müller wohnt, dessen Windmühlen verfallen, seit er eine motorgetrieben Mühle besitzt. Von dort läuft man eine weitere halbe Stunde nach Norden, vorbei am einsamen Schulgebäude, zum Hauptort der Insel: Kastri.
In Kastri leben noch sechs oder sieben Familien, von denen drei neben der Landwirtschaft ein Kaffeehaus betreiben, um so ein wenig bare Münze zu verdienen, mit der sich magere Zeiten notdürftig überbrücken lassen. Vier junge Männer hat der griechische Staat ins Dorf entsandt: zwei Polizisten, die keine andere Arbeit haben, als über eben diesen Tatbestand Berichte anzufertigen, den Lehrer und den Arzt, der hier seinen Militärdienst absolviert. Einmal pro Woche besucht er die Dörfer der Insel; in Notfällen kann er einen Armeehubschrauber herbeordern - per Telefon, das seit 1967 auch auf Gavdos klingelt. In jedem der vier Weiler und am Anleger steht eins, Gespräche untereinander sind kostenlos.
Stelios, Cafetier, Bauer und Gemischtwarenhändler in Kastri, betreibt dort neuerdings ein Hotel: ein zweigeschossiges Haus, jedes Stockwerk ein Raum von königlichen Ausmaßen mit bettelarmer Möblierung, die Natur die Toilette. Neben der Zisterne im Hof steht ein Eimer, fließend Wasser kennt man hier nicht.
Von Kastri führt gen Südwesten ein steiniger Weg durch buschhohe Kiefernwäldchen, die immer wieder den Blick frei geben auf Gavdopoula, “das Töchterchen von Gavdos”, ein kleines, unbewohntes Eiland. Dann liegt nach einer Stunde Ambelos vor dem Wanderer, das überrascht, weil hier ganz unerwartet einige Feigen- und Olivenbäume grünen, sogar eine Kuh zwischen den ärmlichen Häusern aus Naturstein nach Nahrung sucht. Der Bauer Artemios aus Ambelos erinnert sich noch gut daran, dass die Deutschen im letzten Weltkrieg Gavdos besetzt hielten und Stukas 1941 den Leuchtturm beim Dorf zerstörten, der noch heute Ruine ist.
Die Karte des Pappas enthält viele Informationen: Der höchste Hügel der Insel erreicht 325 Meter, die gesamte Südwestküste, neun Kilometer lang, fällt steil ins Libysche Meer ab. An den Ufern finden sich einige Strände - der von Sarakiniko lockt ab und zu auch Fremde. Es gibt dort Süßwasser und ein einfaches Haus, das für wenig Geld gemietet werden kann; Sanddünen und Kiefernwäldchen ziehen sich von dort weit landeinwärts.
Dreizahn Kirchen verzeichnet die Karte. Sie stammen alle aus diesem Jahrhundert. Eine vierzehnte ist gerade in Bau, mitfinanziert von den Bewohnern der Insel, die alle “gute orthodoxe Christen” sind, wie der Pappas versichert. Jeden Sonntag reitet er in ein anderes Dorf und läutet die Glocken zu Heiligen Messe.
Mit Stolz erfüllt die Gavdioten, dass Gavdos in der Bibel erwähnt wird, als die Insel Klauda, an der Paulus auf seinem Weg nach Rom Schiffbruch erlitt. Keine der alten Karten im Historischen Museum von Iraklio verzichtet auf diesen Hinweis. Weniger legendenhafte Zeugnisse seiner Vergangenheit hat Gavdos nicht preisgegeben, der Spaten der Archäologen wurde hier noch nirgends angesetzt. Dabei wäre ein Erfolg umfangreicher Grabungen durchaus zu vermuten: Die geographische Lage prädestinierte Gavdos zu einer Zwischenstation auf den minoischen, altgriechischen und römischen Handelswegen. NOch heute führen die internationalen Container- und Tankerlinien dicht an der Insel vorüber.
Sie werden gekreuzt vom kleinen Kaiki, das den Fremden wieder zurückbringt nach Kreta. Als Dank für lange Gastfreundschaft hat er Pippina einen alten Reisewecker zurückgelassen, den sie voll Verlangen betrachtet hatte. Ihr Sohn, der Pappas, wünscht sich beim nächsten Besuch ein Fernglas - damit er hinausblicken kann aufs Meer und zur großen Mutterinsel Kreta.
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