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Der Traum vom urigen Griechenland

Von Klaus Bötig | 4.Oktober 2015

Wir Griechenlandfreunde, denen Hellas mehr als nur uralte Hochkultur und Wiege Europas oder Sonne und Strand bedeutet, suchen im Lande eins ganz besonders: Ursprüngliches und Unverfälschtes. Wir finden es noch heute – in den Menschen des Landes.

Panayotis Zografos, seit 2013 griechischer Botschafter in Deutschland, erinnert sich gut an ein Erlebnis aus seiner Kindheit. Seine Familie mietete damals im Sommer stets eine Ferienwohnung am Meer. Einmal zeltete auf dem Grundstück nebenan wochenlang ein junger Brite. Sie brachten ihm täglich etwas von ihrem Mittagessen hinüber. „Das“, so der Diplomat, „würde heute so wohl nicht mehr geschehen. Wir haben uns an die Touristen gewöhnt, sind vielleicht auch etwas ängstlicher geworden.“

Langjährige Griechenlandreisende haben sicherlich Ähnliches erlebt. Unvergessen bleibt mir die Überfahrt auf einem mit Ziegen und Fracht beladenen Kaiki von Paleochora im Süden Kretas nach Gavdos, Europas südlichster Insel. Pipina, die Schwiegermutter des Inselpriesters, war mit an Bord. Meine Frau kam mit ihr ins Gespräch, die beiden mochten sich. Sie lud uns ein, auf Gavdos in ihrem Haus zu wohnen. Der Priester stand mit zwei Eseln am Kai: einem für die Schwiegermama, einem für sich. Wie selbstverständlich überließ er seinen Esel meiner Frau, wir beide trotteten zu Fuß hinterher. Als Dank ließ ich dann eine Woche lang jeden Abend  den Popen beim Monopoly gewinnen.

Sogambros, 82-jähriger Tavernenwirt in der Waldeinsamkeit des Cholomondas-Gebirges im chalkidikischen Hinterland, ist eins der letzten Relikte aus jenen vergangenen Zeiten. Seine Gäste kommen in der Regel mit dem Auto zu ihm hinauf. Er bewirtet sie mit Wildschwein-Koteletts und –Grillwürsten, schenkt Rotwein vom heiligen Berg Athos aus, scherzt und tanzt mit ihnen, trägt beleibte Touristinnen liebend gern auf seinen Armen. Spätestens nach dem zweiten Glas Wein aber brechen sie auf – den Gästen fällt die Promillegrenze ein. Das hat Sogambros schon immer traurig gestimmt. Daraufhin hat er vor ein paar Jahren auf einer nahen Waldlichtung ein Haus mit acht Apartments zu bauen begonnen. Drei sind fertig gestellt. Gästen, die er besonders mag, bietet er an, darin kostenlos die Nacht zu verbringen und erst einmal weiter fröhlich mit ihm den Tag zu verbringen.

Kleine Gesten

Es sind Menschen, die Griechenland so unvergleichlich machen. Kleine Gesten drücken oft viel Ursprünglichkeit aus, kurze Begegnungen bleiben für immer im Gedächtnis. Vamos, ein Landstädtchen östlich von Chania, fällt mir ein. Wir gehen am Dorfrand spazieren, stoßen am Straßenrand auf eine Ödfläche voller Rizinus, halb so groß wie ein Tennisfeld. Noch nie zuvor haben wir eine solch verwilderte Ansammlung dieser rötlichen Pflanze gesehen. Ihre hochgiftigen Samenkerne sind so ebenmäßig schön, dass wir ein paar davon mitnehmen. Auf dem weiteren Weg lesen wir auch einige Kiefernzapfen und Eicheln auf, ein Schneckengehäuse und ein paar schöne Steinchen. Wir kommen an einem Garten vorbei und entdecken ein uns unbekanntes Rankgewächs, das besonders üppig blüht. Zufällig lehnt die Gartenbesitzerin aus dem Fenster ihres Hauses. Wir nutzen die Gelegenheit und fragen sie, welche Blüte das sei. >Típota<, also >Nichts< lautet die lapidare Antwort, die wir uns nicht erklären können. Unser Spaziergang endet in einem der Kaffeehäuser an der Platía. Die Novembersonne scheint, wir lassen uns an einem Tisch unter einem Baum im Freien nieder. Wir breiten unser Lesegut - Rizinuskern, Eicheln und die anderen kleinen Schätze - auf dem Tisch aus, um uns an ihrem Anblick zu erfreuen. Die alte Wirtin kommt, betrachtet sie kurz und wischt sie mit der verächtlichen Aussage >Típota<  vom Tisch. Uns wird klar, was dieses Wort bedeutet: Was nicht essbar, nicht verwertbar ist, ist >Típota<.

Manchmal ist Urigkeit auch mit ein wenig Schlitzohrigkeit gepaart. Ich erinnere mich an Nikos, Zimmervermieter und Bootsbesitzer in Diafani im Norden von Karpathos. Es war erst Mitte März, ich musste dringend hinüber zum unbewohnten Eiland Sarria mit den rätselhaften Resten eines mittelalterlichen Dorfes, wie es auf Hellas kein zweites gibt. Vielleicht stammt Sarria noch aus Saraszenenzeiten im 8. oder 9. Jahrhundert. Eine Reisezeitschrift hatte eine kleine Reportage darüber bestellt. Nikos war bereit, mich für einen horrenden Preis hinüber zu bringen. Die beiden anderen schon in Diafani anwesenden Ausländer waren begeistert, mitkommen zu können und notgedrungen gewillt, mit zu bezahlen. Pünktlich um 9 Uhr am nächsten Morgen stiegen wir in Nikos altes, offenes Motorboot.  Immer ganz dicht an der Steilküste entlang ging es nach Norden. Schon nach 20 Minuten verteilte der Skipper Eimerchen. Die Bilgenpumpe schaffte es nicht mehr, das ins Boot irgendwo eindringende Wasser anzupumpen. Wir Passagiere mussten ran und fühlten uns wie Galeerensklaven.

Drei sonnige Stunden auf Sarria entschädigten uns für die Plackerei. Doch zurück mussten wir von Anfang an ans Hilfswerk. Der Wind hatte aufgefrischt, uns war mulmig zu Mute. Nach 90 Minuten kam die Mole von Diafani in Sicht. Auf der Mole stand Nikos ganze Familie. Als wir anlegten, war sie sichtlich erleichtert, dass wir das Boot über Wasser gehalten hatten. Auch Nikos war jetzt wieder ganz entspannt – durch die mutige Fahrt hatten wir ihm eine neue Bilgenpumpe finanziert. Zum Dank lud er uns zum Ouzo ein. Die Saison konnte beginnen.

Frühstücksfleisch

Weit weniger gefährlich war ein anderes Erlebnis noch in Drachmenzeiten. Ich war auf den Kykladen unterwegs und wie jedes Jahr einmal überfiel mich plötzlich ein Irrsinnsappetit auf Dänisches Frühstücksfleisch in Dosen. Jedes Pantopoleion in Hellas hat es heute noch vorrätig. Als mich der Wahn ausgerechnet auf dem winzigen Donoussa nahe dem großen Naxos überfiel, war es daher nicht schwierig, eine  solche Dose im spärlich bestückten Regal einer  >Alleshandlung< aufzuspüren. Sie stand ganz oben, direkt unter der hohen Decke. Der alte Ladeninhaber stieg auf einen Hocker, nahm sie vorsichtig zwischen zwei Fingerspitzen,  stellte sie sanft auf den Tresen und pustete den Staub fort. Der mit Filzstift handgeschriebene Preis wurde lesbar: 12 Drachmen. Der Herr schüttelte bedenklich den Kopf: „Die Dose muss alt sein. Jetzt kostet sie 240.“ Der Heißhunger hatte mein Denkvermögen zum Erliegen gebracht. Ich zahlte die geforderte Summe, löste den typischen Frühstücksfleisch-Dosenöffner von der Dose und steckte die Blechlasche in den Schlitz. Die Lasche brach, die Dose blieb verschlossen. Ich wandte mich an den Verkäufer. Der holte eine Schere herbei, stieß sie ins Blech und mühte sich, die leicht rostige Dose zu öffnen. Als sein Vorhaben schon weit gediehen war, rutschte ihm die Schere ab, er stach sich in den Finger. Sein Blut tropfte auf mein Frühstücksfleisch. Er fluchte, machte aber weiter, übergab mir zwei Minuten später stolz die geöffnete Dose und wünschte mir guten Appetit. Ich bedankte mich, ging hinaus und entsorgte das Frühstücksfleisch mit Blutsauce auf der nächsten Müllkippe. Immerhin: der alte Herr hatte weder Mühe noch Gefahr gescheut, seinen ausländischen Kunden zufrieden zu stellen.

Denkwürdig

Manchmal kann die Begegnung mit einem „urigen Griechen“ auch sehr nachhaltig wirken. So wie  die mit dem Schattenspieler Charidimos. Ich streifte durchs Thissio-Viertel und stand ganz überrascht vor einem neuen Museum in einer alten Hutfabrik. Es war der Schattenspielerfamilie aus Piräus gewidmet. Ich trat ein, schaute mir die Karagiozis-Figuren, Plakate und Szenenbilder an. Auf der Bühne war eine Schattenspielbühne aufgebaut. Ich schaute dahinter – und sah Herrn Charidimos, der mit ein paar Figuren zugange war. Wir unterhielten uns über seine Kunst und alte Zeiten, als Schattenspieler noch durch Griechenland und über seine Inseln zogen, um auf Dorfplätzen Gastspiele zu geben. Am Ende kam die obligatorische Frage „Ti doulja kanis esi – welche Arbeit hast du?“.  Als er hörte, dass ich Journalist bin, bat er mich um meine Visitenkarte und versprach, mir bald Post nach Deutschland zu senden. Schon eine Woche später traf der Brief in Bremen ein. Die von Herrn Charidimos handgeschriebene Adresse hatte er buchstabengetreu meiner Visitenkarte entnommen, die allerdings in einer Oberzeile auch den großspurigen Werbeslogan >Keiner kennt Griechenland besser“ trägt. Also war die Sendung an

Keiner kennt Griechenland besser

Klaus Bötig

Reisejournalist

gerichtet. Der Briefträger fragte gleich, ob er sich vor seinem nächsten Griechenlandurlaub ein paar Tipps von mir holen könne. Der Inhalt des Briefs war weniger zum Schmunzeln geeignet,  sondern zeugte vom Tiefsinn des einfachen Schattenspielers. Er hatte mir ein Bild gemalt, eine Mahnung ans journalistische Ethos. Sein einer Karagiozis-Figur nachempfundener Journalist ist eine schillernde Figur. In der Rechten trägt er Friedenstaube und Ölzweig, in der Linken ein Banner mit der Aufschrift „Friede der Welt“. Er ist eben ein >Dimosiographos tis Irinis – Journalist des Friedens<. Die Mahnung in der rechten unteren Ecke lese ich jetzt fast täglich: „Bringe die Erde nicht aus dem Gleichgewicht!“ Sie hängt über meinem Schreibtisch.

 

Dieser Blog erschien zuerst als Artikel im Griechenland-Journal 2015

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