Kreta im Winter und Frühjahr: Chania und der Westen
Von Klaus Bötig | 11.Januar 2014
Hellas schließt im Winter seine touristischen Türen. Während Zypern, Mallorca, Sizilien oder Malta längst zu Ganzjahreszielen wurden, verfallen viele griechische Touristiker in den Winterschlaf oder widmen sich der Olivenernte. „Schade drum“, meint unser Autor, und lädt zu einer ersten Winterreise nach Kreta ein.
Der Wind bläst kräftig und kühl über die lange Hafenmole von Chaniá, ein wenig Gischt liegt in der Luft. Nordseegefühle kommen auf. Aber die ägäische Sonne scheint am blauen Himmel und der Blick gen Süden ist postkartenreif: Die schneebedeckten Zweitausender der Lefka Ori – der „Weißen Berge“ – scheinen in der klaren Winterluft zum Greifen nah direkt hinter dem historischen Häusermeer der Venezianischen Altstadt aufzuragen. Ein auch nur ähnliches Bild ist im gesamten Mittelmeerraum wohl nicht zu finden.
Gleich am Ansatz der Mole hat der Yachtclub von Chania eine öffentliche Café-Lounge in einer historischen Werfthalle aus den Zeiten der Serenissima eingerichtet. Sanfte, niveauvolle musikalische Klänge treffen auf aktuelle Kunst- und Fotoausstellungen an den Wänden, das Getränkeangebot trägt winterliche Züge. Wer Dionysos verpönt, bestellt einen frisch aufgegossenen Kräutertee, wer seine Genüsse nicht scheut, bestellt sich einen Rakomelo, einen warmen Tresterschnaps mit Honig und Zimt.
Kühl sind ohnehin nur die Temperaturen. Die Hotels auf Kreta, die jetzt noch geöffnet sind, sind trotz der Kostenexplosion bei den Heizölpreisen gut durchwärmt. In vielen Bars und Tavernen brennt ein offenes Feuer im Kamin, in einfachen Kafenia steht nach Altväterart ein Bollerofen in der Mitte des Raums. Auch für menschliche Wärme ist wieder mehr Zeit, denn in den Straßen sind ja kaum noch wandelnde Portemonnaies mit fremden Pässen zu finden.
Eine Stadt wie Chania ist für einen Kurzurlaub in der kälteren Jahreshälfte wie geschaffen. Anders als in so manchem Badeort, der im Sommer mörderisch laut und voll und im Winter dann tot ist, geht auch hier das Leben von Einheimischen und Studenten weiter, kehrt abends sogar von den Stränden in die City zurück. Im >Fagotto< erklingen an umgebauten Nähmaschinentische Jazz und Blues, im >Chalkina< lässt man sich an Wochenenden bei kretischer Live-Musik kreative und traditionelle Mezedakia schmecken. Die besten Restaurants bleiben auch jetzt geöffnet, so das >Tamam< in einem ehemaligen türkischen Hamam oder Kretas einziges vegetarisches Restaurant an der Nordküste, das >To Stachi<. Da darf man sich von der Abwesenheit des Personals hinter geöffneten Türen nicht abschrecken lassen: Wirt Stelios steht meist in der Küche, wenn keine Gäste da sind, und erwartet, dass an die Küchentür klopft, wer bei ihm zu speisen gedenkt. Unbedingt probieren: Das Kastanien-Stifado mit Pilzen oder das Pligouri mit viel Auberginen und Knoblauch!
Chanias Museen
Herrlich menschenleer sind im Winter auch die Museen der Stadt. Da lässt sich im Archäologischen Museum, angesiedelt in einer ehemaligen gotischen, dreischiffigen Franziskanerkirche aus venezianischer Zeit, in aller Muße ein sensationelles Siegel aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. v.Chr. betrachten. Es zeigt ein mehrgeschossiges minoisches, von Stierhörnern bekröntes Gebäudeensemble mit zwei Toren, das wie eine kleine Stadt wirkt. Archäologen vermuten, dass hier das auf einem Hügel innerhalb der heutigen Altstadt gelegene minoische Chania dargestellt ist. Nachbetrachtungen kann man gut zu Hause anstellen, denn das Siegel ist auf dem Titel des kleinen Museumsführers abgebildet, den jeder Besucher mit der Eintrittskarte erhält.
Nur ein paar Schritte weiter ist in einem Stadthaus am Vorhof der heutigen römisch-katholischen Kirche ein privates Folklore-Museum untergebracht. Neben der Kasse im Erdgeschoss stehen eine Raki-Destille und eine Weinpresse. Im Obergeschoss sitzt eine alte Frau ganz in Schwarz als Wachsfigur mit Spindel in der Hand in ihrer Küche, steht eine Braut in Tracht an ihrem Hochzeitsbett. Alte landwirtschaftliche Gerätschaften hängen selbst noch von der Decke herab, ein Schneider sitzt an seiner Nähmaschine. Ihm kann man zwar keine Aufträge mehr erteilen, wohl aber den Damen, die das Museum betreiben. Sie sind in ganz Griechenland für ihre kreativ abgewandelten traditionellen Stickereien bekannt.
Mit deutsch-kretischer Geschichte konfrontiert das Nautische Museum am Hafen ausgiebig. Die Schlacht um Kreta im Jahr 1941 wird hier im Obergeschoss ausführlich anhand zahlreicher Fotos, Zeitungsausschnitte und Pläne geschildert. Uniformen und Ausrüstungsgegenstände beider Seiten ergänzen die sehr informative Darstellung. Das Erdgeschoss des Museums ist älterer Geschichte gewidmet. Modelle und Dioramen, zu denen Erklärungsblätter auf Englisch bereit liegen, erläuternden Verlauf der Seeschlachten von Salamis und vom Kap Mykali 479 v.Chr. Und sogar Ruinen, die man am Hafen gesehen hat, werden hier wieder verständlicher, denn ein Modell zeigt die venezianischen Schiffshallen in ihrer ursprünglichen Form, ein Stadtmodell im Maßstab 1:500 zeigt Chania, wie es vor 350 Jahren war.
Randbemerkungen
Es sind nicht nur die großen Dinge, denen man sich in Chania im Winter widmen kann. Am frühen Wochenendabenden nach Neuschnee im Bergland lohnt es, ein wenig an den Haupteinfallstraßen zu sitzen. Da kommen die Familien von ihren Schneeausflügen zurück. Als Trophäe bringen viele einen Schneemann mit, der auf der Kühlerhaube tränenreich gegen die Wärme kämpft. Und an jedem Morgen bringt ein Spaziergang in den Stadtpark Ruhe in den Tag. Da sitzen nicht nur die älteren Herrn im edlen Café >O Kipos<, spielen Tavli oder Dame, lesen Zeitung und gönnen sich vielleicht auch schon einen orientalischen Kuchen. Das Café hat Stil, strömt fast noch ein wenig kosmopolitische Hauptstadtatmosphäre aus, wie sie Chania in den 15 Jahren kretischer Selbständigkeit von 1898 bis 1913 prägte. An die vielen Jahre, in denen Christen und Moslems meist friedlich zumindest nebeneinander lebten, erinnert ein einzigartiges Monument in der Altstadt: das wohl einzige Gotteshaus der Welt, das christlichen Kirchturm und islamisches Minarett zugleich besitzt. Heute ist sie dem hl. Nikolaos geweiht. Dominikanermönche hatte sie in venezianischer Zeit errichten lassen, die Türken widmeten sie in eine Moschee um, die Griechen dann schließlich in eine orthodoxe Kirche um. Auch eine neben Venezianern, Griechen und Moslems vierte wichtige Bevölkerungsgruppe des alten Kreta hat in Chania ein erlebenswertes Monument hinterlassen: die Synagoge Etz Hayyim. 1699 gab der osmanische Statthalter auf Kreta den Juden der Stadt die Erlaubnis, sie in einer katholischen Kirche aus dem 16. Jh. einzurichten. Sie wird heute von der kleinen jüdischen Gemeinde der Stadt nicht nur als historisches Denkmal und Erinnerungsstätte an den Holocaust, sondern auch als Ort der Versöhnung betrachtet. Ein Gemeindemitglied ist meist anwesend und lässt sich gern auf ein Gespräch ein. Manchmal finden auch ökumenische Veranstaltungen in dieser Synagogestatt.
Als wäre all das noch nicht genug Programm für eine Stippvisite in Chania, gibt es noch so manch weiteres Verlockendes. Die Städtische Pinakothek, im Sommer Schauplatz bedeutender Wechselausstellungen wie 2013 einer Präsentation bedeutender Werke moderner Kunst aus dem Frissiras-Museum in Athens Altstadtviertel Plaka, zeigt Objekte aus städtischem Kunstbesitz. Im kleinen Laden MAT verkauft der ehemalige griechische Schachmeister Athanasios Diamantopoulos Schach- und Tavli-Spiele in ungeahnter Vielfalt. Und im Mediterranean Architectural Center in einer ehemaligen venezianischen Werfthalle am Hafen werden Wechselausstellungen historischer und moderner Architektur gezeigt.
Pure Ländlichkeit
Doch wenn die Sonne - wie an vielen Wintertagen üblich – am Himmel steht, erscheinen sicherlich Ausflüge in die Natur verlockender als Museums- und Galerienbesuche. Da ist ja auch Einiges los. Am Weg ins nahe Meskla hängen jetzt die Orangen erntereif an den Bäumen, in den Olivenhainen auf der Halbinsel Akrotiri werden die Oliven geerntet, die das Kloster Agia Triada dort zu auch in Deutschland in Supermärkten erhältlichem Bio-Olivenöl presst. Am See von Agia sind Hobby-Ornithologen auf der Suche nach gefiederten Wintergästen, in der Glasbläserei von Kokkino Chorio werden alte Glasflaschen in schönstes farbiges Glas verwandelt, nehmen die Gestalt von Lampen und Leuchtern, Vasen, Karaffen und Gläsern an. An den Dünenstränden von Falassarna im äußersten Westen, das man dank Autobahn schnell erreicht, ist kein einziger Mensch mehr zu sehen, auch die südseehafte Lagune von Elafonissos mit ihrem in allen erdenklichen Blau-, Grün- und Türkistönen schimmernden Wasser hat man jetzt meist ganz für sich allein. Und wenn nicht gerade Schneefälle angezeigt sind, lohnt auch die Fahrt durch die Weißen Berge hinüber nach Sougia am Libyschen Meer. Da sind erst die Alpen und dann Nordafrika auch klimatisch ganz nah. Hier könnten Touristen wie in manch anderen Orten an der Südküste bestens einen winterlichen Langzeiturlaub verbringen – aber keiner ist da.
INFOS
Anreise: Mehrmals täglich Linienflüge von Athen nach Chania, täglich Fährverbindung ab Piräus.
Reiseführer: Marco Polo, DuMont Direkt und DuMont-Bildatlas, alle drei von Klaus Bötig.
Stadtführer: Discover Chania On Foot von Berend Wolffenbuttel, erschienen im Mai 2013.
Internet: http://www.chania.gr/
Termine: m Faschingssonntag, 2014 wie in Deutschland am 2. März, findet am Nachmittag in der Nachbarstadt Rethimno der größte Karnevalsumzug Kretas statt.
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