Unbekanntes Griechenland: Der Dimos Kato Nevrokopi
Von Klaus Bötig | 18.Februar 2014
Zwischen Drama und dem Friedenstunnel mit Bulgarien in den Rodopen erwartet den Reisenden viel Überraschendes: Griechenlands kältester Ort, ein Skigebiet, Marmorabbau für China, jede Menge Pferde und Kühe, die Luft voller Paraglider – und eine Stätte deutsch-griechischer Versöhnung aus den Anfangstagen des Zweiten Weltkriegs.
>Bist du hier, um Marmor zu kaufen?<, fragt mich die Wirtin in der Taverne in Volakas. Etwas anderes ist für sie kaum vorstellbar. Das große Dorf zwischen Falakro-Gebirge und Rodopen nahe der bulgarischen Grenze wird von riesigen Marmorbrüchen gesäumt. Etwa 60 Prozent der Ausbeute wird nach China verfrachtet, auch Süd-Amerika ist ein Abnehmerland. Die Minenarbeiter verdienen gut, etwa 1200-1400 Euro im Monat. Sie sind darum fast ausschließlich Griechen. Die vielen Schafe und Ziegen in der Umgebung hingegen werden fast nur noch von bulgarischen Tagelöhnern gehütet. Ganz ohne Hirten kommen die Pferde- und Maultierherden aus. Sie weiden frei, trotten und lagern sich auf Straßen und Wiesen, hauchen dem Vorland der Rodopen ein wenig Flair des Wilden Westens ein.
Ein alpenländischer Touch kommt hinzu: Mehrere kleine, aber gute Hotels warten auf Wintersportgäste. Das Skigebiet Falakro ist nur zwölf Kilometer entfernt. Dort oben gibt es auf 1615 – 2232 m Höhe 21 präparierte Pisten und neun Lifte für Skifahrer und Snowboarder und zudem Griechenlands höchstgelegenes Restaurant. Das lohnt auch für Nicht-Wintersportler an klaren Tagen einen Besuch, denn der Blick reicht dann häufig bis zur Insel Thássos und zum Götterberg Olymp.
Ich bin im Sommer am Falakro. Pferde und Kühe füllen die Hochebene mit der Talstation der Skilifte, die jetzt einer zerfledderten Hüttensiedlung gleicht. Selbst auf den Berg- und Hügelkämmen grasen noch Rinder, gleichen als Silhouetten den spanischen Veterano-Werbestieren. Die einzigen Menschen, die ich treffe, sind Dieter aus München und seine griechische Frau Katerina, die Kräuter und Blüten für Bergtees sammeln. Sie betreiben drunten am Fuß des Falakro eine kleine Pension und laden mich ein, sie an einem der nächsten Tage zu besuchen.
Zunächst aber ist die Kreishauptstadt Kato Nevrokopi auf etwa 550 m Höhe mein Ziel. Zur Tankstelle am Ortseingang gehört ein kleines, modernes Hotel. Den Eingangsbereich schmückt eine große Karte der Schwarzmeerregion. Die Ortsnamen sind darauf auf Griechisch und Türkisch angegeben. Da scheint es in dieser Region weniger Berührungsängste zu geben als sonst in Ellada: Schon in Drama drunten im Tal war mir in der (sehr guten) Tourist-Information ein ausführlicher Ortsprospekt auf Türkisch aufgefallen. Fast alle Bewohner des Dimos Nevrokopi seien kleinasiatische, kappadokische oder Pontos-Griechen, erklärt mir der Wirt. Sie seien nach 1923 hier angesiedelt worden, als die türkischen Bewohner ihre Dörfer im Rahmen des >Bevölkerungsaustausches< räumen mussten. Deren Nachkommen kämen jetzt manchmal als Touristen zurück. Ansonsten aber, sagt er, steht sein Hotel seit Ausbruch der Krise leer. Und auch die Tankstelle ist kaum noch mehr als Beschäftigungstherapie. Zum Tanken fahren die Einheimischen ins nur 12 km entfernte Bulgarien hinüber. Den Heizölverkauf hat er ganz eingestellt, denn alle hier oben –Tankwart inbegriffen – heizen nur noch mit Holz. Dabei wird es hier oben im Winter bitter kalt. Selbst tagsüber verharrt im Winter das Thermometer wochenlang auf minus Zehn bis minus Zwanzig Grad. Nevrokopi gilt als kälteste Region Griechenlands, oft liegt monatelang auch auf der Hochebene Schnee. Darum besitzt der Tankwart, der 20 Jahre lang als Schweißer in Hagen arbeitete und jetzt in einem Dorf 17 km von Kato Nevrokopi entfernt wohnt, auch noch einen Traktor. Wenn er mit seinem Jeep wegen Glatteis nicht mehr durchkommt, fährt er mit dem zum frustrierenden Tankstellendienst.
Ich steige wieder in mein Auto, das im unvollendeten Erdgeschoss eines Hotelerweiterungs-Rohbaus parkt, und fahre zur Platia. Im Fernsehen läuft gerade ein Fußballspiel. Schlechte Zeiten, um mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Aber auch Apostolis in der fernsehfreien Café-Bar Petrino zeigt sich zunächst nicht sehr kommunikativ. Dafür sind seine Kleinigkeiten zum Drink ein Hochgenuss. Zum ersten Campari stellt er mir ein Tellerchen mit Pfirsich, Melone und Kirschen neben das Glas, zum zweiten dann schon zweierlei Wurst, griechischen Schinken, Oliven und Käse. Aber erst, nachdem mein Telefon geklingelt und ich mich auf Deutsch mit meiner Frau unterhalten habe, wird er gesprächig, fragt nach Woher und Warum, stellt für sich und mich eine Karaffe Tsipouro auf den Tisch. Sein Bruder lebt seit 20 Jahren in Düsseldorf, er war nur einmal in Deutschland: Um einen gebrauchten Bus zu kaufen, als er für die regionale KTEL arbeitete. Eigentlich ist er Koch, hat aber auch schon einmal Blockhütten verkauft und aufgebaut. Jetzt träumt er davon, demnächst auf einem gerade geerbten Acker Bio-Kartoffeln für sich und seine Freunde anzubauen.
Apostolis überschüttet mich mit Informationen. Ich erfahre, dass die Grenzöffnung zu Bulgarien nur wenigen hier oben nutzt: Bulgaren kaufen hier bestenfalls Pharmaka, Werkzeug und Olivenöl ein –dafür seien aber die kleinen Textilunternehmen, deren Fabrikhallen verwaist am Ortsrand stehen, längst auf die andere Seite der Grenze verlagert worden. Was den Menschen blieb, ist der Kartoffel- und Bohnenanbau. Dann kommen Freunde vom Kulturverein des Nachbardorfs Ochirou. Sie wollen Werbeplakate aushängen: Für einen Disco-Abend in der Grundschule am Freitag mit Musik der 1970er bis 1990er Jahre unterm Motto >Back to School< und für einen Abend mit pontischer Musik und pontischen Tänzen am Samstag auf dem Dorfplatz. Schließlich erzählt mir Apostolis noch von einem neuen, einzigartigen Museum im gleichen Dorf, das 2014 eröffnet werden soll.
Am nächsten Morgen fahren wir hin. Von weitem wirkt das geweißelte Monument auf einem niedrigen Fels wie ein kykladisches Kloster. Beim Näherkommen werden die metallenen Soldaten immer größer, die kampfbereit auf dem Felsen stehen, den Parkplatz bewacht neben Panzersperren ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein weißes Ehrenmal trägt die Aufschrift >LISSE<. Hier versuchten 425 griechische Soldaten vom 6.-10.April 1941 den Einmarsch deutscher Truppen zu verhindern. Ihr Kampf erschien den Invasoren so heldenhaft, dass sie die Überlebenden nach deren Kapitulation und Entwaffnung ehrenhaft zu Pferde in ihre Heimatdörfer entließen statt sie gefangen zu nehmen. Das neue Museum in einem unterirdischen Stollen im Fels, von der EU mitfinanziert, soll mit modernsten, auch audiovisuellen Mitteln an diese Tage erinnern. Bisher gab es nur eine kleine Ausstellung zum Thema in einem altertümlichen Museumsraum direkt im Dorf. Der Kustos dort erzählt uns, dass bis vor einigen Jahren zu den jährlichen Gedenkfeiern auch deutsche Veteranen anreisten und gemeinsam mit ihren Gegnern von einst der Toten gedachten und danach das Überleben feierten. Jetzt sind sie alle bis auf einen tot. Dessen Paradeuniform trägt jetzt eine lebensgroße Puppe im alten Museum. Ans Revers der Uniformjacke hat der Kustos ein Farbfoto des alten Mannes drapiert.
Anderen Spuren der Vergangenheit begegne ich in Exochi, dem letzten Dorf vor dem >Tunnel der griechisch-bulgarischen Freundschaft<. Seit 2005 verbindet er die griechische mit der bulgarischen Grenzstation. Der Psaltis in der Kirche hat eine schöne Stimme. Trotzdem sind zum Gottesdienst am Festtag von Peter und Paul weniger Kirchgänger erschienen, als Jesus Jünger hatte. Gegenüber der Kirche finde ich, von Pflanzenwerk nahezu vollständig überwuchert, einen alten türkischen Hamam, der noch begehbar ist. Ein paar Schritte entfernt verfällt die alte Moschee. Einige der Wohnhäuser tragen typisch osmanische Züge. Hier leben die Nachkommen der griechischen Flüchtlinge, die nach 1923 in Exochi eine neue Heimat fanden. Viele von ihnen hatten zunächst in einer eilig improvisierten Siedlung aus jetzt dachlosen, zweiräumigen Steinhäusern gelebt, die hier in einzigartiger Vollständigkeit erhalten blieb.
Am Abend kreisen die Gespräche im Kafenio an der Platia von Kato Nevrokopi um die Zukunft. Man spricht über die Angst der jungen Leute vor dem Unbekannten. Anders als ihren Eltern, die in den 1960ern massenhaft nach Deutschland zogen, fällt es ihnen schwer, die Heimat zu verlassen. Nicht einmal die Inseln würden sie locken, wo man doch als angelernter Kellner im Sommer so viel mehr verdienen kann als hier als Arbeiter in den Bergen. >Aber dafür musst du ja erst einmal ein Jahr Englisch lernen<, wirft ein junger Mann ein. Und der Kellner erzählt, er habe ein Angebot von einem Hotelier aus Rhodos gehabt, der nur Makedonier einstellen wollte. Da hätte er 1300 Euro im Monat plus Trinkgeld verdienen können, aber auch seine Frau und seine drei Kinder zurücklassen müssen…
Dieter und Katerina, meine Bergteesammler vom Falakro, haben ihr aktives Berufsleben hinter sich. Ihre Pension ist Hobby, sie führen sie wie ein Privathaus mit gelegentlichen Gästen. Eine Griechin aus Deutschland veranstaltet hier sporadisch Tanzkurse, Künstler betten sich hier, wenn sie im modernen Freilufttheater gleich nebenan Konzerte geben. Vor allem aber kommen Paraglider. Der >Air Club Aiolos< in Drama ist der aktivste in ganz Hellas, hat rund um Petroussa über ein Dutzend Start- und Landeplätze eingerichtet, listet in der gesamten Region 55 und auch noch direkt im Falakro-Massiv zwei davon auf. Wer den Mut hat, sich da lautlos in die Lüfte zu schwingen, ist mit Sicherheit für eine Weile aller irdischen, von Habgier und Politikern gemachten Sorgen enthoben.
INFO
Dimos Kato Nevrokopi: Region Ost-Makedonien/Thrakien, Bezirk Drama, 7.860 Einw., 9 Einw./km²
Tourist-Info: Tourist-Info Drama, Platia Eleftherias, www.pedramas.eu, www.traveldrama.gr (beide auch auf Deutsch)
Unterkünfte: Pension Katerina, Petrousa, Tel. 6996529281,; Hotel Orvilos, Kato Nevrokopi,Tel. 2251522611; Archontiko Papaemmanouil, Volakas, Tel. 6932739073, www.arpap.gr
Gute Websites: www.aiolosdrama.org (für Paragliding), www.falakro.gr (Skigebiet)
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